Ungewöhnliche Orte brauchen ungewöhnlich viel Mut
Sonntag, Juni 1st, 2008Heute laufe ich ich nicht einfach so vorbei, heute klopfe ich. Ich sehe ihn durch das kleine Fenster wie er geschäftig durch die Küche läuft. Das Radio hat er aufgedreht und singt „there’s an ordinary world – somehow I have to find – and as I try to make my way – to the ordinary world“. Er hört mein Klopfen nicht, Duran Duran sind stärker. Genaus so weit kam ich das letzte Mal auch, dann hat mich der Mut verlassen.
Da, er dreht sich im, jetzt sieht er mich, grinst mich an und öffnet mir die Türe. Mein Berner Che Guevara sieht in der Küchenuniform so ungewöhnlich brav aus. Trotzdem ist er mir vertraut wie früher. Die Lust, ihn zu berühren ist von der ersten Sekunde wieder da. „Sexy siehst Du aus.“ Es war definitiv kein Fehler, das Wickelkleid nur locker zu knoten.
Wir plaudern über seinen neuen Job, während ich ihn beobachte wie er das Mittagessen für 40 Leute vorbereitet. Zum Glück wird es Lasagne, da hat er genügend Zeit für Seitenblicke. Von einem Profi das Kochen erklärt zu bekommen, hat mehr Erotik als ich dachte. Ich lehne mich gegen den kühlen Stahl der Gastroküche und geniesse die Flirtatmosphäre. „Du hast immer noch dieses Parfum. Es macht mich nervös.“ Treffer. Ich tigere ihm durch die Küche hinterher und merke, dass diese grosse, einsame Küche ungeahnte Abenteuer mit sich ziehen könnte. Eine neue und daher unerfüllte Fantasie keimt auf. Mit einem Ohr höre ich, wie Philip Maloney seinen Fall löst. Die Zeit rast, um eins kommen seine Gäste.
In den 12-Uhr Nachrichten gibt es erste Hochrechnungen von der Eidgenössischen Abstimmung. Ich kenne sie schon, wenn auch nur die des liberalen Solothurns. Doch gerade jetzt interessiert mich Politik gar nicht. Die Erinnerung an seine weichen Lippen raubt mir den Verstand. Er wirkt etwas schüchtern und dabei weiss ich, wie gefährlich er meinem Kontrollwillen werden kann.
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Sandi Thom singt „Help me get my feet back to solid ground – ‚cause were walking to the devils beat- and it’s trying to bring us down.“ Oh nein, nicht tanzen, bitte nicht. Jetzt zieht er mich zu sich. Unsere Hüften bewegen sich immer noch im gleichen Takt, wie damals, als wir uns – durchgeschwitzt, mit Wanderschuhen im tiefen Matsch stehend – zum ersten Mal näher kamen.
Kaum küsse ich ihn, spüre ich kühlen Stahl an meinem Rücken. Jetzt müsste er was sagen. Frauen wie ich brauchen jetzt Worte, auch wenn’s nur ein „ich will Dich. Hier. Jetzt.“ ist. Irgendetwas, was meinen Verstand runterfahren lässt. Verbale Stimulation sozusagen. Noch haben seine Hände, seine Lippen, die an meinen saugen und sein unglaublich fordernder Körper für einen kompletten Absturz gesorgt und um den Neustart zu verhindern, fehlt etwas. Man könnte es falsche Sicherheit nennen.
Los! Sag‘ was! Lüg‘ mich meinetwegen an. Ich spüre mein System hochfahren. Denke an Kondome, die fehlen, an Mitarbeiter, die plötzlich auftauchen, an Anwohner, die uns durch das Hoffenster beobachten könnten. Ich blocke. Er lacht: „Nicht mutig genug?“ Es ärgert mich, weiss ich doch, dass ich auch mit Kondomen gekniffen hätte. Wie habe ich das bloss früher gemacht, als ich die Gefahr erwischt zu werden, noch prickelnd fand? Als Sex auf einer Gartenparty in einer Hausecke mit meinem Freund noch ohne zu zögern möglich war? Heute in dieser Küche – das wäre unvergesslich gewesen. Lust pur.
Warum war Sex in einer H&M-Kabine früher möglich und nun in einer fast einsamen Küche nicht mehr? Ist mir mein Ruf plötzlich wichtig? Warum brauchen ungewöhnliche Orte plötzlich ungewöhnlich viel Mut?