Aber das Essen war gut
„Deine Schwester ist ein richtiges Ungeheuer.“
Natürlich hatte er das nicht genau so gesagt. Er druckste herum, bis ihr seine Antwort genügte. Aber wie sollte er ihr das auch so direkt sagen können? Es war das erste Mal, dass ihn seine Freundin an Weihnachten mit nach Hause zu ihren Eltern nahm. Und die Schwester schockte ihn sofort. Nicht nur das Übergewicht und die zwei Sirenen, die zwischen den Hosenbeinen rumkrabbelten, auch die etwas zu hennaroten Haare und der Ansatz eines Damenbartes. Ihre Art die Kinder zurechtzuweisen – nämlich gar nicht – behagte ihm nicht. Schliesslich studierte er Jura. Er mochte Regeln. Vorschriften waren was Gutes. Glücklicherweise verstand er sich besser mit ihrem Bruder, der ihr noch am ähnlichsten war. Die Frage, ob die Freundin je so wie ihre Mutter werden könnte, stellt sich wohl jeder Mann früher oder später. Er sich seit 6 Stunden nun auch. „Nein, besser nicht.“ Es war mehr ein Hoffen, denn ein Wissen, aber sie war anders. Er streichelte ihr über den Rücken und stellte fest, dass es eigentlich gar nicht so schlimm war. Sogar ein Geschenk hatte er erhalten. Sie zwang ihn gerade zum dritten Mal auf dieser Zugfahrt, es hervorzuholen.
„Schön“, sagte sie.
„Ja, schön.“
Dann schwiegen sie. Von Bätterkinden bis Worblaufen. Als sie ihre Jacke wieder anzogen, hörte ich sie sagen:
„Aber das Essen war gut!“
„Ja, sehr gut.“
Bevor sie den Zug verliessen, drehte sie sich nochmals um. Unter der Mütze blitzte hennarotes Haar hervor und über den Lippen sah ich deutlich einen Flaum eines juvenilen Damenbartes. Oh du fröhliche, oh du selige…
Tags: Weihnachten
26. Dezember 2009 um 00:12
ja, so können Weihnachten auch aussehen, aber liebr nicht bei mir…
Und: warum die zwei wohl zusammen sind?
26. Dezember 2009 um 09:31
Das frage ich mich öfters wenn ich gewisse Pärchen-Konstellationen betrachte. Liebe macht blind…
26. Dezember 2009 um 11:26
Na dann frohes Fest.
P.S.: Wertes Fräulein Chnübli, gibt es ein Faible für weihnachtliche Kurzgeschichten?
26. Dezember 2009 um 17:19
Lieber Jens, es gibt nur am Weihnachtsabend mehr Pärchen im Zug als sonst.
26. Dezember 2009 um 17:29
Das Leben schreibt die besten Geschichten?!
26. Dezember 2009 um 18:07
Sowieso.
27. Dezember 2009 um 17:56
Ich versteh die Geschichte nicht. Wer hat denn nun die hennaroten Haare und den Damenbart? Die Freundin? Die Schwester der Freundin? Oder beide? Ist der Freund blind? Was hat er geschenkt bekommen? Einen weissen Stock? Ein Minarett in einer Schneekugel? Einen Bildband „Die schönsten Strecken der SBB“?
Ich gebe zurück ins Studio …
28. Dezember 2009 um 10:58
Klingt nicht beneidenswert…:-((
28. Dezember 2009 um 19:48
@Das dicke Ütli: Es ist Weihnachten – das Fest der Liebe. Reicht das nicht …?
28. Dezember 2009 um 21:43
@Jens: Nö, reicht mir nicht. Ich bin ein Kind der Auf-, nicht der romantischen Verklärung.
Ist die Frau mit den roten Haaren und dem Bartwuchs vielleicht eine Allegorie auf’s Samichlaus?
29. Dezember 2009 um 00:37
Und nächste Weihnachten ( bzw. in 3 Jahren ca ) ist er zweifacher Vater, seine Frau hält nicht viel von Zurechtweisungen ihrer zwei Sirenen ( und da sie ihrer Schwester sowieso aufs Haar gleicht lass ich weitere Ausführungen ).
Sein Bruder kommt zu Besuch und denkt: Oh man, deine Frau ist ja ein richtiges Ungeheuer …
Und die Geschichte beginnt von vorne… ;)
29. Dezember 2009 um 12:05
@Das dicke Ütli: Die Idee mit der Allegorie ist sehr charmant, da kann man bestimmt was daraus basteln … aber das ist schon verdammt lange her, dass ich Literatur interpretiert habe. Und zwischenzeitlich halte ich es auch eher mit technokratischer Auf- statt romantischer Verklärung. Das einfachste ist es wohl, dass werte Fräulein Chnübli als Autorin diesbezüglich zu konsultieren …
29. Dezember 2009 um 20:38
Tu ich ja. Aber wie man sieht, antwortet sie nicht :-(
29. Dezember 2009 um 22:36
Ich hab ja nur sie gesehen und war erstaunt über den Ansatz des Damenbärtchens. Sich die Schwester vorzustellen war ja dann wohl nicht so schwer :)
Aber amüsant Eure Interpretationen hier. Pardon die verspäteten Antworten! Ich werde mich bessern im 2010! Erinnert mich daran ;)
29. Dezember 2009 um 22:39
@ChliiTierChnübler: Ach, jetzt verstehe ich! Du meinst, die Frau im Zug sass im Glashaus und warf übelst mit Steinen …
… besonders schön fände ich jetzt noch, stellte sich heraus, dass es sich bei den Schwestern um eineiige Zwillinge handelt.
6. Januar 2010 um 16:45
Aber das Essen war gut. (-:
Krankengeschichte ergänzen: