Ungewöhnliche Orte brauchen ungewöhnlich viel Mut

Heute laufe ich ich nicht einfach so vorbei, heute klopfe ich. Ich sehe ihn durch das kleine Fenster wie er geschäftig durch die Küche läuft. Das Radio hat er aufgedreht und singt „there’s an ordinary world – somehow I have to find – and as I try to make my way – to the ordinary world“. Er hört mein Klopfen nicht, Duran Duran sind stärker. Genaus so weit kam ich das letzte Mal auch, dann hat mich der Mut verlassen.

Da, er dreht sich im, jetzt sieht er mich, grinst mich an und öffnet mir die Türe. Mein Berner Che Guevara sieht in der Küchenuniform so ungewöhnlich brav aus. Trotzdem ist er mir vertraut wie früher. Die Lust, ihn zu berühren ist von der ersten Sekunde wieder da. „Sexy siehst Du aus.“ Es war definitiv kein Fehler, das Wickelkleid nur locker zu knoten.

Wir plaudern über seinen neuen Job, während ich ihn beobachte wie er das Mittagessen für 40 Leute vorbereitet. Zum Glück wird es Lasagne, da hat er genügend Zeit für Seitenblicke. Von einem Profi das Kochen erklärt zu bekommen, hat mehr Erotik als ich dachte. Ich lehne mich gegen den kühlen Stahl der Gastroküche und geniesse die Flirtatmosphäre. „Du hast immer noch dieses Parfum. Es macht mich nervös.“ Treffer. Ich tigere ihm durch die Küche hinterher und merke, dass diese grosse, einsame Küche ungeahnte Abenteuer mit sich ziehen könnte. Eine neue und daher unerfüllte Fantasie keimt auf. Mit einem Ohr höre ich, wie Philip Maloney seinen Fall löst. Die Zeit rast, um eins kommen seine Gäste.

In den 12-Uhr Nachrichten gibt es erste Hochrechnungen von der Eidgenössischen Abstimmung. Ich kenne sie schon, wenn auch nur die des liberalen Solothurns. Doch gerade jetzt interessiert mich Politik gar nicht. Die Erinnerung an seine weichen Lippen raubt mir den Verstand. Er wirkt etwas schüchtern und dabei weiss ich, wie gefährlich er meinem Kontrollwillen werden kann.

 
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Sandi Thom singt „Help me get my feet back to solid ground – ‚cause were walking to the devils beat- and it’s trying to bring us down.“ Oh nein, nicht tanzen, bitte nicht. Jetzt zieht er mich zu sich. Unsere Hüften bewegen sich immer noch im gleichen Takt, wie damals, als wir uns – durchgeschwitzt, mit Wanderschuhen im tiefen Matsch stehend – zum ersten Mal näher kamen.

Kaum küsse ich ihn, spüre ich kühlen Stahl an meinem Rücken. Jetzt müsste er was sagen. Frauen wie ich brauchen jetzt Worte, auch wenn’s nur ein „ich will Dich. Hier. Jetzt.“ ist. Irgendetwas, was meinen Verstand runterfahren lässt. Verbale Stimulation sozusagen. Noch haben seine Hände, seine Lippen, die an meinen saugen und sein unglaublich fordernder Körper für einen kompletten Absturz gesorgt und um den Neustart zu verhindern, fehlt etwas. Man könnte es falsche Sicherheit nennen. 

Los! Sag‘ was! Lüg‘ mich meinetwegen an. Ich spüre mein System hochfahren. Denke an Kondome, die fehlen, an Mitarbeiter, die plötzlich auftauchen, an Anwohner, die uns durch das Hoffenster beobachten könnten. Ich blocke. Er lacht: „Nicht mutig genug?“ Es ärgert mich, weiss ich doch, dass ich auch mit Kondomen gekniffen hätte. Wie habe ich das bloss früher gemacht, als ich die Gefahr erwischt zu werden, noch prickelnd fand? Als Sex auf einer Gartenparty in einer Hausecke mit meinem Freund noch ohne zu zögern möglich war? Heute in dieser Küche – das wäre unvergesslich gewesen. Lust pur.

Warum war Sex in einer H&M-Kabine früher möglich und nun in einer fast einsamen Küche nicht mehr? Ist mir mein Ruf plötzlich wichtig? Warum brauchen ungewöhnliche Orte plötzlich ungewöhnlich viel Mut?

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39 Patienten zu “Ungewöhnliche Orte brauchen ungewöhnlich viel Mut”

  1. Jan sagt:

    wow … was für ’ne Schreibe … Du solltest Dich beruflich doch eher in den Mediensektor entwickeln. Literatin, Drehbuchautorin, Regie?

  2. Meister Lampe sagt:

    …oder Erotik Romane Autorin *grins*

  3. rouge sagt:

    Mist, schon wieder Maloney verpasst.

  4. ChliiTierChnübler sagt:

    @Jan: Hej, merci. Das ist das Leben, das diese Geschichten schreibt ;)

    @Meister Lampe: Ach ja, welche Erotikautoren kennst Du denn bisher?

    @Rouge: Aber wieso? Mit meinem Link kannst Du Dir die Episode nochmals anhören.

  5. tobi sagt:

    Vielleicht weil hemmungsloser Sex an Priorität eigebüßt hat? Weil’s irgendwo, und wenn man es noch gar nicht weiß, etwas wichtigeres gibt?

  6. ChliiTierChnübler sagt:

    @Tobi: Unbestritten, dass es sogar sehr viel wichtigeres gibt. Aber von den hunderten Mal, bei denen man Sex im Bett hat, denkt man da nicht an die besonderen prickelnden Momente zurück und sind es nicht grad die, an ungewöhnlichen Orten gewesen?

  7. Stoeps sagt:

    Da bekommt sogar der besonnene Homoblogger Herzklopfen! Herrlich geschrieben, so richtig zum mitschwitzen und hoffen! Hoffen das Chnübli ihrem Impuls nachgibt, mutig ist und alles um sich herum vergisst (ausser den Kondomen natürlich). Und am Schluss – wie gut wir das doch alle kennen – der Sieg der Vernunft, der die Träume wieder verblassen lässt. Tja, während bei vielen männlichen Geschlechtsgenossen in solchen Situationen das Hirn wohl einfach auf Hormonsteuerung umschaltet, bricht bei Dir dafür ein fast schon poetisches Kopfgewitter los! Das, Chnübli, ist der Unterschied den ich in meinem Blog thematisieren wollte. Dein Verhalten hat zwar den Quickie verhindert, aber für eine Welle von Erinnerungen und Empfindungen gesorgt und nicht zuletzt zu einem wundervollen Blogpost geführt! Nächstes Mal denkst Du an die Kondome und vergissten den Rest! =)

  8. Loner sagt:

    Ich kann mich hier – besonders auch bei den ersten zwei Sätzen – Stoeps voll anschliessen. Da können viele Kolumnistinnen mit flachem Gebrabbel über das Zwischenmenschliche warm anziehen, wenn sie sich deine Zeilen mal durchlesen würden. Grosse Bewunderung meinerseits für diese angenehme Offenheit.

  9. ChliiTierChnübler sagt:

    @Stopes: So hat doch meine letzte Liebe wegen des Aufbrauchs meiner Kondome sogar noch das nächste Abenteuer verhindert. Fies gell :) Danke für die Motivation!

    @Loner: Hui. Da wird mir aber jetzt warm :)

  10. Stoeps sagt:

    @Chnübli: Na dann nichts wie los und Gummis gekauft, auf das Du für das nächste Abenteuer gerüstet bist! =)

  11. ChliiTierChnübler sagt:

    @Stoeps: Das wäre doch mal eine – zugegeben etwas unanständige – Tagesfrage für den Leu:

    Welche Kondommarke bevorzugst Du?

  12. sittenpolizei sagt:

    …wieso du keinen sex mehr mit deinem che attest in der küche? weil du weisst, dass wir mit den jahren nicht mehr soviel herz-energie haben sie an jeden zu „verschwenden“ – auch wenn er oder sie so süss und sexy ist. irgendwie tuts immer ein bisschen weh – vor allem nach guten sex…sniff

  13. ChliiTierChnübler sagt:

    @Sittenpolizei: Wie wahr, wie wahr! Guter Sex ist so selten, dass man unweigerlich, hatte man mal wieder guten, nicht einfach wieder schlechten haben kann. So hindert mich zur Zeit des letzten Mannes Bettqualitäten daran, einfach zum nächsten zu hüpfen – das war erstens – und zweitens ist die Gefahr, dass einer, der so gut tanzen und küssen kann unweigerlich einfach auch sonst gute Bewegungen machen muss – und da käme dann schon wieder das Wehtun beim Abschiednehmen…

  14. David sagt:

    oha, da gehts ja richtig zur Sache. Jetzt dämmerts mir auch, warum dein Blog so erfolgreich ist: du bloggst ja richtig… Sicher nicht jedermanns Sache, seine Liebesgeschichten im Netz neidergeschrieben zu haben (äh, schwierig zu kunjugieren). Aber den einen oder anderen Roman solltes Du schon schreiben.

  15. ChliiTierChnübler sagt:

    @David: Aber nie vergessen kritisches Literaturstudium zu betreiben, auch bei echten Weblogs ;) Würdest Du denn einen Roman von mir auch lesen?

  16. Tonicwater sagt:

    Im Leben brauchen wir ja nicht alles zu wiederholen, manchmal sind die Erinnerungen schöner als Sex auf kühlem Gastrostahl. Auch in diesem Bereich gibt es eben verschiedene Abschnitte im Leben, den mit Sex an den verrücktesten Orten hast Du vielleicht einfach ausgelebt und somit „gesehen“.

  17. ChliiTierChnübler sagt:

    @Tonicwater: Das dachte ich tatsächlich bisher auch und habe Matratze und Bettdecke seither favoritisiert, aber der Reiz war dennoch stärker als ich dachte.

  18. Jeremy sagt:

    Ich wusste es, ich wusste es- du bist/warst Zora off *lool*

    Ein echt toller Text der mir wiedermal zeigt, welch grossartige Wortfolgen man doch machen kann ;)

    Ich wünschte immer noch, bei der Vergabe des Schreibtalentes doch nur vor dir beim lieben Gott gewesen zu sein. Nunja, nun hast du halt das Schreibtalent von uns zwei *g

  19. ChliiTierChnübler sagt:

    @Jeremy: Für die blosse Erwähnung von Zora Off in Zusammenhang mit meiner Person sollte ich Dich aus meiner Blogroll löschen und mit ewigem Kommentarverbot belegen.

    Gooooht’s no?

  20. Jeremy sagt:

    *duck* damit habe ich mir wiedermal einige Pluspunkte selbst gestrichen.
    Nun, ich habe den Zusammenhand nur hergestellt da Ihr beide „extrem“ offen über euer Liebesleben schreibt.
    Natürlich macht Ihr dies in einem ganz anderen Kontext, euere Texte sind ja auch vollkommen anders und haben wohl auch eine völlig andere Grundlage.

    /Me entschuldigt sich dann mal mit einem Blümchen bei Chnübli und einem Starbucksgetränk beim Shopbesuch :)

  21. Captain Cook sagt:

    @Jeremy

    Starbucks wird dein Pluskonto nicht unbedingt in die Höhe schnellen lassen.

  22. rouge sagt:

    @ CTC: Wow, subi – thnx. Hab noch gar nicht ausprobiert was sich hinter diesem Link verbirgt.

  23. florian sagt:

    Tolle Geschichte… erinnert mich gerade dran, dass ich meine Freundin seit Samstag nicht mehr gesehen habe… Warum musst du mich während der Arbeit auf falsche Gedanken bringen ;)

  24. ChliiTierChnübler sagt:

    @Jeremy: Ich bin nicht so der Blümchen-Typ, aber danke für’s nette Angebot. Sollten wir wirklich mal in einem Starbucks landen zusammen, bin ich natürlich froh, wenn ich das überteuerte Zuckerdings nicht selber bezahlen muss.

    @Rouge: Ich liebe die moderne Technik, seit es Podcasts gibt von diversen Sendungen kann ich viel selektiver meine Informationen wählen. Oder sie eben im Netz nochmals anhören.

    @Florian: Du hast eine Gastroküche? ;)

  25. florian sagt:

    @ctc: nicht ganz ;)

  26. francuzzo sagt:

    schön gschribe chnübli. do sotsch emol e büechli veröffentliche. chasch mi grad uf bestellliste nä. u wäge dä h&m kabine mach dir mol kei sorge.

    „Versuch nicht, Deine Vergangenheit zu ändern, sondern beginne heute damit, Deine Zukunft zu gestalten!“

  27. Meister Lampe sagt:

    @ CTC: Erotik-Autorinnen kennen ich ehrlich gesagt keine. Du bist wärst die erste.
    Aber wahrlich ein sehr schöner Text! Hast du es schon mit Kurzgeschichten versucht? Dieser Text würde sich bestimmt dafür qualifizieren.

  28. ChliiTierChnübler sagt:

    @Francuzzo: Aber hier gibt es sie gratis. Das ist doch viel besser. Wäre ich nicht Schweizer, ich würde die Texte vertonen und als mp3 präsentieren.

    @Meister Lampe: Dann musst Du dringend aber in literarische Nachhilfe kommen bei mir :) Schade habe ich mein Lieblingsbuch in Sachen Erotik gerade auf dem Flohmi für 2 Franken verkauft. Hier eine Rezension von Marcia Morgados: „Erotische Notizen aus Little Havanna“(runter scrollen).

  29. francuzzo sagt:

    guti idee chnübli. eifach mache, schwizeri hi oder här.

  30. Snook sagt:

    Hmmm.. nach dem Lesen der Rezension habe ich primär mal wieder Lust auf …. eine Havanna! (die andere Lust ist ja eh ständig präsent…)

  31. Meister Lampe sagt:

    @ Chnübli: dieses Buch scheint wirklich ganz interessant zu sein. Ich glaub ich muss das mal lesen.
    Käme aber trotzdem in die literarische Nachhilfe.

    @ Snook: das ist wohl das Los von uns Männern (zugegeben: es gäbe schlimmere Schicksale)

  32. ChliiTierChnübler sagt:

    @Francuzzo: Daran hindert mich mein eigener Perfektionismus.

    @Snook: Ausser diejenigen, die das au Überheblichkeit stets negieren.

    @Meister Lampe: Ich habe das Buch mal an einem verregneten Wochenende einem Freund vorgelesen. Es war durchaus anregend und mit einigen Unterbrüchen gut zu zweit lesbar.

  33. David sagt:

    @ zur Frage oben: so ein Bahnhofskioskroman würde ich von dir wahrscheinlich eher nicht lesen. Aber dein Buch „Ich blogge“ (herausgegeben vom Wiley-Verlag), „die 10 besten Tricks für erfolgreiches Blogschreiben“ , 29.– wäre sicher unterhaltsam. Schade nur, dass es noch bis 2010 dauert, bis es fertig gedruckt kaufbar ist… ;-)

  34. pia sagt:

    einfach super geschrieben, man hat das Gefühl, man weiss genau wie sich die Situation anfühlt – enorm anregend. – Ich für meinen Teil hoffe, dass mich nie der Mut zu ungewöhnlichen Orten verlässt, ist es doch immer wieder prickelnd… Nur im Bett kann’s ja mindestens genau so prickelnd sein, also mach Dir nicht zu viele Gedanken – da gebe ich stoeps vollkommen recht (denke an die Kondome und sonst nicht mehr denken; nur geniessen!) Aber egal, an welchen Orten oder wie oder… hauptsache es stimmt für Dich :o)

  35. Lt. Stoned sagt:

    da frag ich mich nur: lesen deine Verwandten dein Blog? :)

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